Laudatio PD. Dr. med. Natalie Urwlyer
Verleihung des Doron-Preises 2023 an Natalie Urwyler: Laudatio
Meine Mutter hatte Mühe mit mir als Tochter, die so gar nicht ihrem Bild eines sanften, anpassungsfähigen Mädchens entsprach. Mein Glück war der Vater, der die «Eigenständigkeit» seiner Tochter ein Leben lang liebte und förderte. Mein Vater war in den 50er-Jahren eine Ausnahme. Die Gesellschaft lag damals auf der Seite meiner Mutter: Mädchen sollten sanft und lieblich sein, nicht aufmüpfen oder auffallen, sicher auf ein Studium verzichten, weil sie ja einst doch heiraten und die Ausbildung sich nie lohnen würde.
Was machen Mädchen in dieser Situation? Sie kapitulieren frühzeitig oder sie kämpfen – meist ein Leben lang gegen Vorurteile und die stete Diskriminierung mit mehr oder weniger Erfolg: in den Familien, in der Schule, während der Berufsbildung, im Studium, im Beruf, in der Politik. Endlos.
Das war vor 70 Jahren! Lautet oft die Antwort. Aber wir erfahren es täglich: Frauen werden bis heute unsichtbar gemacht: Sie werden hinter Schleiern und Burkas versteckt, sie sollen dienen, ihre Stimme nicht erheben. Sie werden von der Bildung ausgeschlossen, abgetrieben wegen ihres vermeintlich minderen Werts. Ihnen wird das Recht über den eigenen Körper zu bestimmen genommen. Auf der ganzen Welt werden Frauen noch immer an einem selbstbestimmten Leben gehindert.
Nicht in der Schweiz?
„Aber doch nicht in der Schweiz“, werden mir einige entgegnen: „Frauen haben in der Schweiz politische Rechte. Zwar spät, seit 1996 gibt es ein Gleichstellungsgesetz.“ Ich möchte Ihnen aufzeigen, wie das bis heute auch in der Schweiz möglich ist. Und das anhand der Erfahrungen, die die heutige Doron-Preisträgerin, Natalie Urwyler, gemacht hat.
Sie wurde 1973 in Ins geboren. Also rund 20 Jahre nach mir. Und tatsächlich begegnet sie als Mädchen den gleichen, altbekannten Stereotypien: „Eine Ausbildung, vergiss ein Studium für Mädchen ist nicht nötig, sie heiraten ja doch.“ „Was, du willst ins Gymnasium und das mit Typus C. Mathematik, Physik, Naturwissenschaften – das sind doch keine Themen für Mädchen.“
Zu ihrer Berufswahl Chirurgie, Anästhesie, Intensiv- und Notfallmedizin hört sie von Vorgesetzten: „Notfallmedizin ist für Frauen ungeeignet.“ Sie wird auf die Pädiatrie oder Hausarztmedizin verwiesen, die in Teilzeit und mit Kindern ausgeführt werden können.
Zum Glück ist Natalie Urwyler eine Kämpferin. Sie verfolgt ihr Ziel gegen alle Widrigkeiten. Sie verwirklicht ihren Traum und wird Anästhesieärztin, arbeitet 8 Jahre lang bei der Rega als Notärztin.
2005 hat sie den Mut, in einem Karrieregespräch erstmals ihren Wunsch zu formulieren, im Fach Anästhesiologie zu habilitieren und Professorin zu werden. Antwort der männlichen Vorgesetzten: „Was du? Willst du denn kein Kind?“ In der Folge fehlt ihr jegliche Unterstützung, denn eben diese Vorgesetzten Männer entscheiden über die beruflichen Chancen der AssistenzärztInnen. Natalie forscht in der Freizeit.
Lichtblick Amerika
2010 ein Lichtblick. Vom Schweizerischen Nationalfonds erhält sie ein Stipendium für die Stanford Universität in Kalifornien. Dort erlebt sie Erstaunliches: Alle, Frauen und Männer, müssen bei ihrem Eintritt an die Universität einen Kurs über sexuelle Belästigung besuchen. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfährt sie, dass ihr Geschlecht keine Rolle spielt. „Im Studium geht es einzig um Fakten, Ideen und um Leistung. Hautfarbe, Geschlecht oder Herkunft sind nicht von Belang. „Ich fühlte mich frei wie noch nie, und ich war intellektuell produktiv“, erinnert sie sich. Die Grundlagen für ihre Habilitation liegen am Ende des Aufenthalts bereit.
Keine Unterstützung durch die Vorgesetzten
Zurück in der Schweiz kommt das Erwachen.
Natalie Urwylers Erfahrungen nach ihrer Rückkehr kann nur in Stichworten erzählt werden: Statt Zeit zum Forschen erhält sie doppelt so viel Nacht- und Schichtarbeit wie die männlichen Kollegen.
Im Spital kommt es zu Schwierigkeiten, weil das Recht auf Arbeitsreduktion von schwangeren und stillenden Frauen nicht eingehalten wird. Die Frauen leiden unter der belastenden Arbeitssituation und suchten die Hilfe bei der Anästhesistin in höherer Position. Diese setzt sich dafür ein, dass das Arbeitsgesetz im Spital wenigstens für Schwangere und Stillende befolgt wird.
Nach einem Abort wird sie 2013 erneut schwanger und muss hospitalisiert werden. Ihre Gynäkologin verordnet ein reduziertes Arbeitspensum und nur sitzende, ruhige Tätigkeiten. Dafür wäre eine Arbeit in Lehre und Forschung ideal. Doch was tun ihre Vorgesetzten drei Monate später? Sie erteilen ihr ein Arbeitsverbot für den Forschungsbereich, sowie für die Lehre. Nach der Geburt wird ihr der Wiedereinstieg in die Lehr- und Forschungstätigkeit ganz untersagt: Das sei nichts für Mütter.
Schliesslich kündigt ihr der Arbeitsgeber mit der Begründung: gestörtes Vertrauensverhältnis. Natalie Urwyler macht eine Aufsichtsbeschwerde bei der Universität Bern. Die Antwort lässt lange auf sich warten.
Ein weiterer Lichtblick. Mit fast einjähriger Verspätung erfolgt 2014 die Anerkennung ihrer Habilitation im Fach Anästhesiologie. Natalie Urwyler ist die 2. Frau, die in Bern in diesem Fach habilitieren konnte.
Versuch eines Neuanfangs
Ihr Berufsleben liegt in Trümmern: Hier das kleine Kind, dort die fehlende Anstellung. Auf Bewerbungen erhält sie kaum Antwort. Ein Bewerbungsgespräch bringt das Fass zum Überlaufen. Sie stellt fest, dass sie gemobbt wird. Der frühere Arbeitsgeber riet, Frau Urwyler nicht einzustellen wegen „schwierigen Charakters“.
Erst jetzt, Ende 2014, fasst sie den Entschluss, aufgrund des Gleichstellungsgesetzes zu klagen: wegen Rachekündigung, Beförderungs- und Lohndiskriminierung.
Die ausgewiesene Narkoseärztin und junge Mutter ist jetzt arbeitslos und muss – mit einer akademischen Ausbildung und 15 Jahren Berufserfahrung! - stempeln gehen. Sie steht vor der Wahl, entweder Hausfrau zu werden oder von vorne anzufangen.
Natalie Urwyler entscheidet sich für eine zweite Ausbildung. Die 42jährige einstige Kaderärztin ist jetzt wieder Assistenzärztin – zuerst in der Intensivmedizin, später auf der Inneren. Die Lohneinbusse ist enorm, sie beträgt 70 Prozent.
Ein grosser persönlicher Schaden und für die Gesellschaft
Diskriminierung am Arbeitsplatz ist für die Frauen immer ein persönliches Desaster: verbunden mit Abwertung, beruflicher Infragestellung und enormer psychischer Belastung.
Mindestens so schlimm ist der wirtschaftliche Schaden für unsere Gesellschaft. Seit bald 20 Jahren studieren mehr Frauen als Männer Medizin. Als Mütter erfahren sie den Stress in den Spitälern durch die Belastung von Beruf und Familie besonders stark. Der Grossteil ihres Einkommens geht an die externe Kinderbetreuung und durch die Doppelbesteuerung an den Staat. Am Ende fragen sie sich: „Warum tue ich mir das an?“, und sie verlassen den Beruf. Wären all die ausgebildeten Frauen im Beruf geblieben, der heutige Ärztinnen-Mangel würde weniger hart ausfallen. Kann sich unsere Gesellschaft das leisten?
Natalie Urwyler ist kein Einzelfall. Toxische Arbeitsplätze mit Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz und Mobbing gibt es überall: an Universitäten, in Spitälern, Firmen, Verwaltungen, kleineren Betrieben, und sie geschehen auf allen Hierarchiestufen.
Es geht aufwärts, die Klage wird bestätigt
2017 zeigt der Kampf von Natalie Urwyler einen ersten Erfolg. Das Regionalgericht Bern stellt eine Rachekündigung aufgrund des Gleichstellungsgesetzes (GIG Art. 10) fest. Das Urteil wird im Juli 2018 vom Obergericht des Kantons Bern bestätigt. Das Urteil in der Frage, ob eine Beförderung- und Lohndiskriminierung bestand, sollen noch 2023 entschieden werden.
Nach der Anerkennung der Rachekündigung erhält die Kämpferin für die Rechte der Frauen vom Beobachter den Prix Courage 2018. Diskriminierung am Arbeitsplatz wird zum Thema in der Öffentlichkeit. Seither erhält Natalie Urwyler Einladungen an Vorträge und Workshops, nimmt an Studentenkongressen teil, und sie hat die Kraft, Frauen in ähnlichen Situationen zu begleiten.
Es braucht Vorbilder
Vorbilder wie Natalie Urwyler sind wichtig. In der Zwischenzeit wagen immer mehr Frauen eine Klage. Diejenige von Frau Urwyler war die 111te, wenige Jahre später waren es bereits mehrere hundert. Die aktuellste Klage ist diejenige der ehemaligen Kaderfrau Yasmine Motarjemi bei Nestlé. Ihre Klage wurde wegen Mobbingvorwürfen im Februar 2023 vom Waadtländer Kantonsgericht gestützt. Das Urteil ist rechtskräftig. Und eine kleine Sensation, weil Mobbing ganz schwer zu beweisen ist.
Frauen, die am Arbeitsplatz diskriminiert werden hören oft: „Ihr könnt doch klagen.“ Aber das ist schneller gesagt als getan, denn eine Klage braucht nicht nur viel Kraft und einen langen Atem. Auch die Kosten sind enorm. Hätte sie ihre Klage nicht gewonnen, Natalie Urwyler wäre im Privatkonkurs gelandet.
Um zu verhindern, dass Frauen jeweils alleine kämpfen und klagen müssen hat Natalie Urwyler zusammen mit drei Juristinnen StrukturELLE gegründet.
StrukturELLE ist eine Organisation, die Projekte zur Umsetzung von Gleichstellung fördert und sich für Good Governance und transparente Strukturen am Arbeitsplatz stark macht.
Danke Natalie Urwyler für deinen Mut und deine Beharrlichkeit!
Danke, dass du in all den Jahren trotz Leid und Verzweiflung nie aufgegeben hast!
Danke für deinen grossartigen Einsatz für die Frauen in diesem Land. Es ging dir nie nur um dich selber. Dir war stets bewusst, dass du diesen Kampf stellvertretend auch für andere Frauen führst.
Ein grosser Dank geht auch an die Doron Stiftung, die mit der Verleihung des Preises 2023 an Natalie Urwyler dem Anliegen Gleichstellung von Frauen und Männern Gewicht in der Öffentlichkeit gibt. Das ist wichtig: Denn letztlich geht es bei der Gleichstellung um nicht weniger als um eine gerechte und faire Gesellschaft in diesem Land.
Ihnen, liebes Publikum, danke ich fürs Zuhören.
Yvonne Schärli-Gerig
Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für die Frauen ehemalige Regierungsrätin des Kantons Luzern
